Gegen das Vergessen – Ahrtal 2021

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
lieber Herr Steinmeier,

„Ich bin ein Berliner“, mit diesen Worten zeigte der damalige amerikanische US-Präsident John F. Kennedy am 26.Juni 1963 in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus die Solidarität mit dem durch Krieg und Teilung geschundenen Volk West-Berlins.
Viele von uns sind möglicherweise am Sonntag durch Ihren Besuch im Ahrtal, den Berührungen und Ihren Worten an dieses historische Ereignis erinnert worden. Denn hier sind tausende und abertausende geschundene Seelen, die Hoffnung und Zuversicht brauchen.

Als ich am 6.August erstmals in das mir durch meine berufliche Tätigkeit sehr wohl bekannte Ahrtal reiste und die Pressekonferenz der Zivilen Helfer um Wilhelm Hartmann und Markus Wipperfürth moderierte, war ich tief beeindruckt.

Am Nachmittag des gleichen Tages besuchte ich die Pressekonferenz bei der ADD RLP, Aufsichts- und Dienstleistungsbehörde Rheinland-Pfalz, und war ebenfalls beeindruckt. Ich war beeindruckt von der distanzierten Haltung, mit der die Vertreter des Landes in Person von Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Innenminister Roger Lewentz das Leid der Bevölkerung beurteilten und die nächsten Schritte für das Katastrophenschutzgebiet bekannt gaben. Es wurden Zahlen und die damit verbundenen Ziele vorgelesen. Zahlen, die für mich unrealistisch klangen und auch wenig den Menschen hier vor Ort halfen. Da war beispielsweise die Versorgung der Bevölkerung. Frau Dreyer schien stolz darauf zu sein, dass man in der Lage sei, 20.000 warme Mahlzeiten an die Bevölkerung ausgeben zu können. Schon damals war klar, dass diese Zahl bei weitem nicht reichte. Letztlich wurden es bekanntermaßen 13.000, die Zahl ist nicht belegt. Aber dass diese Versorgung bei mehr als 44.000 Betroffenen und zahlreichen Helfern nicht ausreichen konnte, musste allen klar sein. Nie zuvor hatte ich das Gefühl „Wir hier oben und Ihr da unten!“. Leider ein Beispiel von vielen anderen. Nie zuvor habe ich eine so große Entfernung zwischen Politiker und Volk gespürt.

Am späten Nachmittag des 6.August bin ich dann bis zum Winzer-Verein Mayschoss gefahren, um mir einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung zu verschaffen. Am Abend bin ich dann mit meinem Wohnmobil an eine Kirche außerhalb des Krisengebietes gefahren und habe bitterlich geweint. Meine Tränen wollten nicht aufhören, denn das gesehene Elend war unfassbar.

Seit diesem Tag haben mich das Ahrtal und seine Menschen nicht losgelassen, denn täglich bin ich aufs Neue beeindruckt, ich bin sozusagen ahrfiziert.

Ich bin beeindruckt vom Zusammenhalt, der Hilfs- und Spendenbereitschaft der Menschen in Deutschland. Ob jung, ob alt, die Menschen strömen ins Tal um zu helfen. Sie übernachten teilweise mangels Übernachtungsmöglichkeiten in ihren Autos, verbringen ihre Jahresurlaube hier, nehmen unbezahlte Urlaube, feiern ihre Überstunden ab, u.v.m.
Ich bin beeindruckt von der Schaffenskraft unserer Jugend, die pausenlos und unermüdlich den Menschen hier beiseite stehen, ihre Häuser entschlammen, ihren Müll auf die Straßen schaffen und ganz nebenbei ihnen auch Mut vermitteln können.

Ich bin beeindruckt von so vielen älteren Menschen, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz das Leid der Menschen hier ebenfalls lindern. Menschen, die die 80 überschritten haben, machen sich auf um zu helfen. Und ich bin beeindruckt von den vielen tausenden helfenden Händen, die bislang das Ahrtal berührt haben. Ich bin beeindruckt, mit wieviel Energie und Optimismus die Menschen ihr Schicksal vor allem mit Hilfe der privaten Helfer annehmen. Das sind alles positive Eindrücke, die ich gerne mitnehme und die mich sicher mein Leben lang begleiten werden.

Jeder, der einmal in diesem Tal und sich auf diese wunderbaren Menschen eingelassen hat weiß, dass wir hier eine Art Transformation erleben. Einen fundamentalen und dauerhaften Wandel, der momentan Deutschland zu begleiten scheint.

Vergessen scheinen die vielen schweren Monate, die Corona für die Bevölkerung mit sich brachte. Vergessen scheint die Einsamkeit, die uns begleitete. Vergessen scheint die Lethargie, die uns Menschen in diesen vielen Monaten erfasste. Vergessen scheint die Hoffnungslosigkeit, die mit diesem heimtückischen Virus einherging. Denn es kam am 14.Juli 2021 diese unfassbare Flutwelle, die in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen viele Menschen in Not und Elend stürzte und wir mussten schlagartig begreifen, dass noch viel Schlimmere Nöte in dieser Welt herrschen. Die Bevölkerung im Ahrtal hat innerhalb von wenigen Stunden die Vergangenheit verloren, lebt in einer scheinbar trostlosen Gegenwart und sieht einer ungewissen Zukunft entgegen. Und kämpft täglich um das Vergessen. Viele Bewohner sagen „Es gäbe für uns nichts Schlimmeres, als dass ihr uns jetzt allein lasst.“

Die vielen freiwilligen Helfer, die sich auf den Weg hierher machten und diesen Umformungsprozess miterleben durften, bringen Mut und Hoffnung ins Tal. Der Prozess der Veränderung bringt weitreichende Veränderungen für unsere Gesellschaft mit sich, dessen bin ich mir sicher. Denn wir haben gelernt, uns über alle Konfessionen hinweg zu finden, wir haben gelernt uns über alle Nationen hinweg zu verständigen, wir haben gelernt über alle Massen hinweg den Menschen zu helfen und für sie da zu sein.

Trotz aller widrigen Umstände, die wir leider alle in den letzten Wochen vor allem seitens der Politiker und Entscheider erleben mussten, haben wir nicht aufgegeben. Auch dies ist eine Art von Transformation, die uns noch lange begleiten und sicher Geschichte schreiben wird.

Wir sind gekommen, um zu helfen. Nicht mehr und aber auch nicht weniger. Sie sind gekommen, um den Menschen hier im Tal wieder Hoffnung zu geben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie haben uns dabei geholfen, weiter gegen das Vergessen zu kämpfen. Sie sind am Sonntag ein Ahrtaler geworden, danke dafür.

Beate E. Wimmer

 

 

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